Konzept

Künstlerische Interventionen zum G8-Gipfel 2007

24. Mai – 09. Juni 2007 in Rostock

Editorial von Adrienne Goehler, Kuratorin
Der Kunstsommer 2007 beginnt in Rostock/Heiligendamm mit einer künstlerischen Intervention im Stadtraum von Rostock, mit ■ ART GOES HEILIGENDAMM. Zu allen Weltwirtschaftsgipfeln erzeugen die Medien die immer gleichen Bilder; Klischees, die die Inhalte, die verhandelt werden, zum Verschwinden bringen. In Erinnerung bleiben nicht die drängenden Fragen, die die Menschheit bewegen, sondern Demonstrationen, Polizeiaufmärsche und standardisierte Politikeraussagen. Im Unterschied zu den Massenmedien behandelt die Kunst komplexe Zusammenhänge komplex und übernimmt immer stärker die Verantwortung für die Dokumentation des Zustandes der Welt. KünstlerInnen begleiten und verarbeiten die Ereignisse, denen die mediale Aufmerksamkeit bereits wieder entzogen wurde, weil die offiziellen Berichterstatter von einem Event zum nächsten jagen, immer im Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit. Wie kaum zuvor nutzt zeitgenössische Kunst die politischen Krisen wie auch die Bilderwelten der Informationsmedien für eigene freie Zugänge und Interpretationen. Die Kunst nimmt Stellung und eröffnet zugleich neue Sichtweisen jenseits nationaler oder lokal begrenzter Zusammenhänge.

■ ART GOES HEILIGENDAMM hat KünstlerInnen eingeladen, die das Geschehen in Heiligendamm und Rostock kommentierend einfangen. Sie bilden eine Schnittstelle zwischen der Bevölkerung, den sozialen Bewegungen und künstlerischen Repräsentationsformen.
Weltweit nehmen Literatur, Theater, Tanz und Musik unterschiedlichste kulturelle Einflüsse, Stile und Ästhetiken in das eigene Werk hinein, erzeugen so künstlerische Hybride und durchkreuzen das klassische ökonomische Schema von Import und Export. Befreiungsbewegungen beeinflussen die Kunst ebenso, wie künstlerische Werke wiederum von sozialen oder politischen Bewegungen aufgegriffen werden. Die Fragen der Globalisierung sind auch Fragen, die die Kunst bewegen. ■ ART GOES HEILIGENDAMM zeigt Positionen, Denk- und Handlungsansätze von mehr als 50 KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen aus über 20 Ländern zu Themen der Globalisierung. Sie verhalten sich zu Macht, Ressourcen und ihrer Verteilung, zu Sicherheitspolitik, Grenzziehungen und daraus folgenden Ausgrenzungen, zu kulturellen und religiösen Identitäten.




Information zur Idee ■ ART GOES HEILIGENDAMM
Unter 'PROJEKT' stellen wir Ihnen alle KünstlerInnen von ART GOES HEILIGENDAMM vor. Ihre Werke sind so unterschiedlich, wie ihre Lebenswelten und Wahrnehmungen von Globalisierung. Ost und West, Nord und Süd treffen aufeinander. Sensible Studien und poetische Arbeiten stehen neben ironischen Statements und Parodien. Anklage steht neben Aufklärung, Erzählung neben Dokumentation und Fiktion.
■ ART GOES HEILIGENDAMM macht eine Tour d’Horizon: Zwölf im Stadtraum verteilte Litfaßsäulen bringen wichtige Kunstwerke aus den White Cubes auf die Straße. Wir erfahren etwas über Gipfelarchitekturen und über den Zusammenhang zwischen Kinderarbeit in Indien und Grabsteinen in Deutschland. Ein Verkehrspolizist choreographiert seine Arbeit als Tanz. Einem rosa Hasen wird die Globalisierung erklärt, anderorts wird Zeit verschenkt. SchülerInnen aus Rostock arbeiten seit Wochen an einer theatralen Improvisation, in einem anderen Stück begegnen wir Alltagsgeschichten aus einem besetzten Land. Für eine Installation in der Marienkirche werden Fragen von Rostocker Jugendlichen zur Globalisierung gesammelt. Eine „Gipfelmusik“ wird uraufgeführt und im Internet zur freien Verfügung gestellt. Andere Objekte und Installationen befassen sich mit Schutz und Schutzlosigkeit.


Im „Silver Pearl Conference Center & Spa“, einem skulpturalen Ensemble, diskutieren ExpertInnen mit den BesucherInnen über Kunst und Ökonomie, über Copyright und Lizenzen in Zeiten der Globalisierung. Die Silver Pearl ist aber auch ein Ort des Rückzugs, Auftankens und des sich Treibenlassens. Nach Pfingsten gibt es dort täglich um 18 Uhr Künstlergespräche und ab dem 1. Juni immer spätabends die Ernte des Tages/Harvest : Berichte und Geschehnisse. ■ ART GOES HEILIGENDAMM setzt sich der kulturellen Ambivalenz der Globalisierung aus. Kunst macht die vielfältigen Zugänge und Situationen im Umgang mit der Welt und ihren Strukturen sichtbar. Diese Ambivalenz widerstrebt allen Wünschen nach Reinheit und ‚Regierbarkeit‘, hingegen öffnet sie einen Möglichkeitsraum für das Verstehen des Anderen, des Fremden im Anerkennen der gegenseitigen Abhängigkeit. Kunst ist zugleich Teil und Nutznießerin der Globalisierung, sowie Kritikerin ihrer kolonialisierenden Wirkweisen, und genau so begründet der israelische Künstler Eytan Heller seine Teilnahme am Projekt: „Hier kommen Künstler aus aller Welt zusammen, um eine alternative Denkweise und eine Annäherung an die gegenwärtigen Belange der Globalisierung zu zeigen.“

In der weltweiten Wahrnehmung wird der Zaun um Heiligendamm das Bauwerk sein, das das Dilemma des G8-Gipfels plastisch macht: „Die acht mächtigsten Politiker der Welt“ beraten über Schicksalsfragen der Menschheit hinter einem Zaun, der sie vor jeder Begegnung mit den Menschen und ihren Fragen und Emotionen, ihrem Können und ihren Forderungen schützt. Dieser Widerspruch schreit nach Reflexion – nicht nur, aber auch durch Kunst. Darum – und weil der Bund sich in seinen Kunst-am-Bau-Richtlinien selbst verpflichtet hat, durch seine Bauwerke, die herausgehobenen und gesamtstaatlichen Funktionen dienen und an exponierten Standorten stehen, das kulturelle Verständnis und Niveau in diesem Land widerzuspiegeln – hat sich ■ ART GOES HEILIGENDAMM um Kunst-am-Bau-Mittel beworben.
■ ART GOES HEILIGENDAMM ist ein Experiment zur Erweiterung des gesellschaftlichen Resonanzraumes von Kunst, ihrer Fragen und Konzepte hinsichtlich einer gerechteren Verteilung von Reichtum, Macht, natürlichen Ressourcen wie Luft und Wasser, Bildung, Gesundheit und Arbeit. Während der nächsten Tage werden die Grenzen zwischen Kunst, Politik und Stadtraum durchlässiger. Wir freuen uns auf die Begegnung mit Ihnen auf den Straßen und Plätzen Rostocks, in der Silver Pearl, den Kirchen und am Zaun.


■ ART GOES HEILIGENDAMM stellt sich mit über 50 Positionen internationaler KünstlerInnen der Herausforderung, an die Orte der sozialen Bewegungen zu gehen und in Interaktion mit den unterschiedlichen Beteiligten und BewohnerInnen zu treten. Mit den künstlerischen Interventionen soll eine "Verflüssigung" der Wahrnehmungs- und Aktionsformen erzielt werden zwischen Formen der Präsentation und Repräsentation der Künste und denen der sozialen Bewegungen.
Die künstlerischen Interventionen sollen den Zwischenraum öffnen für die Wahrnehmung zwischen pro und contra, dafür dagegen. Es geht um Durchlässigkeiten ihrer Wahrnehmungs- und Handlungsspielräume, um die "Vergrößerung der Gegenwart".
Das Projekt ■ ART GOES HEILIGENDAMM versteht sich als ein Experiment zur Erweiterung des gesellschaftlichen Resonanzraums von Kunst. Zur künstlerischen Praxis der letzten Jahre gehörte die Befragung und Bearbeitung der großen Themen der Globalisierung wie Heimat, Migration, Multiple Identitäten, Religionen, Rolle des Geldes und seiner Verteilung in der Welt. Hier haben sich die Themen mit denen der sozialen Bewegungen überschnitten.


Die künstlerischen Auseinandersetzungen haben aber bislang primär an den Orten der Kunst stattgefunden: im Theater, im White Cube, in Biennalen und Galerien, auf Festivals und Konferenzen, in denen die KünstlerInnen und ihr Publikum weitgehend unter sich blieben. Auch das Performative, ob als Aufführungsgattung oder als Diskursebene, nimmt sich gesellschaftlicher Formen des Widerstands an und fasst künstlerische Praxis dadurch weiter.
Theater- und Tanzstücke adaptieren gewaltfreie Trainingsmethoden der sozialen Bewegungen, widerständige Erscheinungen wie HipHop werden auf Theaterbühnen zu neuen hybriden Formen transformiert, die sich als Ausdruck gesellschaftlichen Wandels begreifen lassen. Dem Konzeptualisten Jochen Gerz, dessen künstlerische Haltung immer auf Beteiligung zielt, geht es um "eine Kunst, die nicht an ihren eigenen Grenzen, Infrastrukturen, gleich ob ängstlich oder selbstgefällig, Halt macht, sondern sich anbietet als ein Vortex (agent, player) im Biotop Gegenwart: zur Vergrößerung der Gegenwart".
Wie kaum je zuvor nutzt zeitgenössische Kunst die politischen Krisen wie auch die Bilderwelten der Informationsmedien für eigene Bildformationen und Interpretationen. "Die Kunst nimmt Stellung und eröffnet zugleich neue Sehweisen auf Bildinformationen jenseits nationaler oder lokal begrenzter Zusammenhänge, beziehungsweise sie schafft erst eine Verbindung von lokal und global, ohne das Eine im Anderen verschwinden zu lassen." (Jan Erik Lundstroem, Berlin Photography Festival, 2005).

Der Kunst wird zunehmend die Verantwortung für die Dokumentation des Zustandes der Welt überlassen oder übertragen. KünstlerInnen übernehmen die Aufgabe des Zuhörens, Beobachtens und Veröffentlichens von Weltereignissen, die aus dem Fokus der Politik und der Medien geraten. Die Entgrenzung traditioneller Kategorien und Formen, die zunehmende Einbindung der Kunst in gesellschaftliche Bezüge ist spätestens seit der documenta X zu beobachten. Die heute überall festgestellte Dringlichkeit des Dialogs der Kulturen der Welt kann nicht auf KünstlerInnen verzichten, weil sich deren Sicht auf Welt nicht an diplomatischen und wirtschaftlichen, also taktischen und strategischen Interessen ausrichtet, sondern sich auf die Universalität und die Freiheit der Künste berufen kann. Künstlerische Suchbewegungen zielen auf das Unentdeckte wie auf das Verdrängte, auf das Befragen des Bestehenden und sind darin allen kulturanthropologischen Entwürfen verwandt, die im Fremden nicht nach Eigenem suchen, sondern das Eigene vielmehr als Fremdes auffassen. Gegenüber den gleichermaßen komplexen wie hierarchisierbaren Interessen, denen Staatspolitik unterworfen ist, haben die Künste damit im Dialog zwischen den Kulturen der Welt einen größeren Bewegungs- und Freiheitsgrad. Weltweit haben Tanz, Theater, Literatur und Musik durch die Hineinnahme unterschiedlichster kultureller Einflüsse, Stile und Ästhetiken in das eigene Werk künstlerische Hybride erzeugt und damit das klassische ökonomische Schema von Import und Export durchkreuzt.

Befreiungsbewegungen haben die Kunst ebenso beeinflusst, deren Werke wiederum von sozialen oder politischen Bewegungen aufgegriffen wurden. Der amerikanische Historiker Vincent Harding erinnert in einer Studie an den Einfluss der schwarzen und karibischen Freiheitsbewegungen auf die Musik, die durch ihre weltweite Verbreitung wiederum in andere Freiheitsbewegungen eingegangen ist - am Tiananmen Platz in Peking, in Südafrika, in Osteuropa, selbst beim Fall der Berliner Mauer. Hybridisierung als kulturelle Praxis ist nicht neu, und letztlich ist die Entwicklung von Kultur ohne sie nicht denkbar. Sie erhält aber eine andere Brisanz und ein anderes Aufmerksamkeitspotenzial durch das Tempo und das Ausmaß, mit denen sich heute die kulturelle Globalisierung verbreitet.
Teile der künstlerischen Interventionen von ■ ART GOES HEILIGENDAMM rekurrieren auf den Faktor "Mobilität" in der Globalisierung. Sie reagieren gleichzeitig auf die logistische Situation vor Ort, die nicht exakt planbar sein kann. Welchen Bewegungsspielraum hat die Kunst, welche öffentlichen Orte können bespielt werden, welche Plätze reklamiert die G8 für ihre Darstellung und Sicherheit?

■ ART GOES HEILIGENDAMM thematisiert das Verschwinden und die Neuerrichtung von Grenzen sowie deren Überwindung, psychisch wie physisch; thematisiert Zentrum und Peripherie in globaler wie regionaler Hinsicht und die 'gerechte' Verteilung kultureller Aktivitäten und Angebote.

■ ART GOES HEILIGENDAMM will erfolgreiche Produktionen aus den Kunst- und Kulturmetropolen in die kulturell eher dünn besiedelte Region Mecklenburg-Vorpommerns bringen und ist ein Statement gegen die schnelllebigen Produktionen der 'Einwegkultur'.
Bei einigen Projekten sind Workshops mit Kindern und Jugendlichen oder andere Formen der Einbeziehung des Publikums integraler Teil der künstlerischen Arbeit. Es geht dabei auch um (Über-)Lebensstrategien von Jugendlichen aus Zimbabwe, Brasilien, Kolumbien und darum, was für sie alle Globalisierung meint. Es geht darum den Horizont für das Verstehen anderer Kulturen zu öffnen.




■ ART GOES HEILIGENDAMM kooperiert auf internationaler, bundesweiter und regionaler Ebene mit: G8-Alternativ-Summit; Dropping Knowledge, Slobodnakultura, Belgrad; NOMAD Theatre Wien; World Parliament of Clowns u.a. Die NGOs laden prominente ReferentInnen ein, wie die Nobelpreisträgerin Wangari Mathai; Vandana Shiva; Jean Ziegler; Raida Hatoum, Étienne Balibar, Ignacio Ramonet, Brian Holmes, Madjiguène Cissé, John Holloway u.v.a.






■ ART GOES HEILIGENDAMM wird gefördert von: Hansestadt Rostock, Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern, Heinrich-Böll-Stiftung Berlin; Die Grünen | EFA im Europaparlament; Fonds Darstellende Künste e.V.; Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung; die tageszeitung; Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte; Goethe Institut Ägypten; Sammlung Falckenberg; Sammlung Marzona und Daniel Richter; ■ ART GOES HEILIGENDAMM wird unterstützt durch NGBK Berlin; KW Institut for Contemporary Art Berlin, Ströer out of home media; Labor Pixel Grain Berlin und mehr als 50 privaten SpenderInnen.